Cherson: Die russische Armee erklärt den Rückzug aus dem westlichen Teil der Region. Die Rolle des neuen Hauptkommandeurs der russischen Streitkräfte in der Ukraine bei dieser Entscheidung. Seit dem Sommer hat die ukrainische Armee systematisch russische Waffenlager, Stützpunkte und Nachschubwege östlich des Dnipro zerstört. Teile der Südukraine bleiben unter russischer Kontrolle.
Angenommen, dass die Russen tatsächlich den erklärten Rückzug aus dem Westteil des ukrainischen Südgebiets Cherson vollziehen, kann ihre Entscheidung folgendermassen eingeordnet werden.
Die russische Armee zieht sich aus dem Gebiet am rechten Ufer des Flusses Dnipro zurück. Die abgetretene Fläche ist verhältnismässig klein aber umfasst den Hauptort der Region. Für Russland ist der erklärte Rückzug der Armee aus Cherson ein schwerwiegender politischer und psychologischer Rückschlag. Man denke nur an die fingierten «Annexionen,» mit denen Russland vor nur wenigen Wochen auch dieses Gebiet zu eigen erklärt hatte.
Wladimir Putin hatte ermahnt, die russische Armee dürfe das Gebiet auf keinen Fall verlassen, koste es was er wolle. Nun zieht er seine Truppen zurück. Ursächlich für die Kehrtwende ist der Antritt des neuen Hauptkommandeurs der russischen Streitkräfte in der Ukraine, Sergei Surowikin: Er versteht sein Handwerk besser als seine Vorgänger und ist in seiner Skrupellosigkeit ein Mann von Format. Er hat begriffen, dass die Stellungen jenseits des Dnipro nicht mehr zu halten sind und hat dem russischen Präsidenten den Rückzug abringen können.
Cherson: russische Armee erklärt Rückzug, Konsequenzen
Rücken die russischen Truppen tatsächlich ein, verzeichnet die Ukraine einen bedeutenden teilweisen Sieg. Seit dem Sommer hat die ukrainische Armee systematisch russische Waffenlager, Stützpunkte und Nachschubwege östlich des Dnipro zerstört, mit dem Ziel, den Besatzern Schlag auf Schlag die weitere Okkupation des westlichen Cherson unmöglich zu machen. Die Strategie hat zwar nicht jeden Tag Schlagzeilen gemacht aber hat sich ausgezahlt.
Die Russen stocken nun ihre Verteidigungslinie am linken Ufer des Dnipro auf. Dieses Prozedere hat zweierlei Gründe. Einerseits nutzen die Russen den breiten Fluss als natürliches Bollwerk gegen einen Vormarsch der Ukrainer; anderseits konzentrieren sie ihre Kräfte auf die Aufrechterhaltung der Bodenverbindung zwischen dem russischen Festland und der Krim. Diese ist umso wichtiger, weil die Krim-Brücke Anfang Oktober schwer beschädigt wurde (mehr >hier).
Beachtliche Flächen der Südukraine bleiben unter russischer Kontrolle. Darauf bestehen u.a. das Atomkraftwerk Saporischschja und die Staustufe Nova Kachovka. Beide sind strategisch relevante und technisch kritische Infrastrukturen, die in den Händen der Russen ein grosses Potenzial an politischer Erpressung bieten. Dass die russische Armee den Rückzug aus Cherson erklärt, ändert in dieser Hinsicht nichts.
Wenn der Rückzug der russischen Besatzer sich vollzieht und die Ukrainer bis ans rechte Ufer des Dnipro vorrücken können, wird sich die Reichweite ihrer Artillerie dementsprechend nach Süden erweitern. Wie die ukrainische Armee die neue Lage verwerten will, wird man erst in den nächsten Wochen beurteilen können. Man sollte nicht davon ausgehen, dass die Russen auf die abgetretenen Gebiete endgültig verzichten.
Die Strategie Russlands ist klar, sie wurde von Wladimir Putin Ende Oktober, anlässlich der Waldai-Konferenz, nochmals eindringlich dargelegt. Meine Einschätzung seines Auftritts folgt hier in den nächsten Tagen.