Die Lage in der Ost-Ukraine hat sich wieder zugespitzt. Dem Angriff vom 22. Januar auf einen Linientrolleybus in Donetsk folgte am 24. Januar der Raketenanschlag auf die Hafenstadt Mariupol. Wenige Tage zuvor hatten prorussische Aktivisten einen Bombenanschlag in einem Bezirksgericht der zweitgrössten Stadt der Ukraine Kharkov verübt.
Diese Entwicklungen kommen nicht unerwartet. Massive Waffenzulieferungen von russischer Seite an die selbstproklamierten «Volksrepubliken» Lugansk und Donetsk liessen eine Wiederaufnahme der Offensive schon lange befürchten. Der schwere Anschlag auf Mariupol stellt die Fortsetzung der russischen Strategie dar, die auf die Eröffnung eines Landeskorridors von der Ostgrenze der Ukraine mindestens bis zum Bezirk Kherson abzielt. Der Korridor soll Russland eine heute fehlende Festlandanbindung an die Halbinsel Krim ermöglichen.
Der erste Schritt dieser Strategie erfolgte Ende August, als die Separatisten die Stadt Novoazovsk einnahmen. Die Umsetzung des Plans wird nun konsequent fortgesetzt. Die Raketen wurden von völkerrechtlich ukrainischen Gebieten aus abgefeuert. Von den russischen offiziellen Medien hört und liest man bemerkenswerte Berichtserstattungen, nach denen die Ukraine dabei sei, ihre Städte selbst zu bombardieren, indem die Kiewer «Faschisten» die betreffenden Gebiete von der Befreiungsarmee der prorussischen Milizen zurückzuerobern versuchen. Es wird dabei verschwiegen, dass die Stützpunkte, aus denen die Bomben- und Raketenanschläge ausgehen, auf der Landkarte zwar auf ukrainischem Gebiet liegen, faktisch aber von den Separatisten, spricht von Russland beherrscht sind. Die dafür notwendigen Waffen «kann man nicht im Supermarkt kaufen», sagte mir eine UN-Helferin, die ich in den letzten Tagen in Kharkov treffen konnte. Einen anderen Zulieferer als Russland kann man sich hier für solches schwere Kriegsgerät kaum vorstellen. Auf ukrainischer Seite kämpfen sicherlich auch rechtsextremistische Einheiten, das steht nicht in Frage. Die Behauptung, von den russischen Medien vertreten, dass rechtsextreme Denkrichtungen die ukrainische Gesellschaft ins Tiefste prägen und dafür ein Befreiungskrieg notwendig wird, ist aber nur zum Totlachen.
Welche Stellung hat die Europäische Union zur Lage in der Ukraine mittlerweile genommen? Seit dem Amtseintritt der neuen EU-Aussenbeauftragten Federica Mogherini sind doch etliche Monate vergangen. Mal schauen, was sie da erarbeitet hat. In den letzten Tagen wurde eine Schrift veröffentlicht, die man eigentlich nicht hätte veröffentlicht sollen. Es geht nämlich um vertraulichen «Denkstoff» über die Ukraine, einen vierseitigen Text, den Frau Mogherini auf Anforderungen des EU-Aussenministerrats angefertigt hat. Das Dokument sei, so Mogherini, weitgehend missverstanden worden. Das stimmt. Man hat daraus ableiten wollen, die junge Italienerin wünsche sich eine unbedingte Lockerung der Sanktionen gegen Russland. Das ist nicht der Fall. Ich habe den Text gründlich gelesen und kann dies gerne bestätigen. Weiteres teilt Mogherini selbst in diesem >Gespräch mit der berühmten CNN-Journalistin Christiane Amanpour mit.
Das ist nicht der Punkt. Von seinem Aufbau her, stellt das Dokument einen aussagekräftigen Überblick über die in Brüssel herrschende Auffassung des ukrainischen Szenarios dar. Die darin enthaltenen Argumente geben interessante Aufschlüsse darüber, wie Frau Mogherini und ihre Mitarbeiter die Lage an der Ostgrenze der Union einschätzen.
Nun: Wenn dieses Dokument eine vertrauliche Diskussionsbasis für die Aussenminister Europas zum Thema ukrainische Krise und Beziehungen zu Russland ist, dann hat jeder Student der Politikwissenschaft konkrete Chancen, zum Aussenbeauftragten der Europäischen Union bestellt zu werden, und zwar noch vor Studienabschluss. Meinen Lesern möchte ich die Wiederholung sparen: Eine detaillierte Analyse des Dokuments, die ich weitgehend teile, ist >hier zu finden. Das Dokument selbst kann man >hier herunterladen. Mein Kommentar zum mogherinischen Lagebericht ist wesentlich kürzer zu fassen: Für einen, der von der Ukraine eben zurückgekehrt ist und die Ereignisse dort seit einem Jahr beobachtet, sieht diese Schrift so aus, als hätte sie der Aussenminister des Planeten Mars verfasst.
Russland wird seine Pläne in der Ukraine, sowie in anderen Gebieten Osteuropas, weiter umsetzen. Die Motive Russlands sind nicht in kurzsichtigen Betrachtungen, in der Teilnahme oder Nicht-Teilnahme an internationalen Gremien und Protokollen zu suchen. Moskau schaut auf einen breiten Aktionsbogen, der vom Kaukasus über die Ukraine, Transnistrien und Serbien bis zu den baltischen Staaten hinreicht. Auf diesem Schauplatz bewegt Putin seine Menschen wie Läufer und Springer auf einem Schachbrett. Dabei pflegt er, von seinen Figuren die Erkennungszeichen und das Nummernschild abzuschrauben. Sie treten hier als tschetschenische Kämpfer, da als Einheiten der Christlich-Orthodoxen Armee, dort als versoffene «freiwillige» Soldatesken, im Internet als eifrige Trolle und Nachrichtenverfälscher auf. Bankiers, die grosszügige Kredite an EU-feindliche Parteien und Bewegungen in Westeuropa vermitteln, gehören auch dazu. Der Zweck heiligt die Mittel.
Der tatkräftigen Umsetzung der russischen Strategie ist mit kurzsichtigen Katz-und-Maus-Spielen nicht entgegenzuwirken. Ziel solcher Strategie ist es nicht, mehr Einfluss bei dieser oder jener internationalen Organisation, mehr Vorteile bei diesem oder jenem Handelsabkommen zu gewinnen. Am Ausgang der revisionistischen Moskauer Pläne steht eine neue Ordnung der europäischen Machtverhältnisse, wie sie sich nach dem 2. Weltkrieg und nach der Überwindung der europäischen Teilung im Jahr 1989 etabliert haben. Die Anzahl der Toten, selbst der russischen, und die Schwere der wirtschaftlichen Folgen, die eine solche Strategie kosten mag, sind im Hinblick auf diese weitreichende, geschichtsträchtige Perspektive nicht von prioritärer Bedeutung. Das ist das Niveau der jetzigen Konfrontation zwischen Russland und Rest der Welt. Die Fakten sprechen klar genug. Die Aussenbeauftragte eines ganzen Kontinents ist gefragt, dieses Szenario, von dem die ukrainische Krise nur eine Teilerscheinung ist, in seiner Tragweite richtig einzuschätzen.
Von einer solchen angemessenen Beurteilung scheinen das hier erwähnte Dokument, das als Grundlage für nichts Geringeres als die «strategic discussion on Russia and EU-Russia relations at the March European Council» dienen soll, so wie andere Stellungnahmen und Äusserungen diesbezüglich auch, bedauerlicherweise noch weit entfernt zu liegen.