Die Meldung, dass Saudi-Arabien an der Turiner Buchmesse 2016 als Ehrengast teilnehmen wird, wirft viele Fragen auf. Zur Beantwortung bieten sich zwei Ansätze: Der klägliche Zustand der kulturellen Szene Italiens und die Auswirkung internationaler Kräfteverhältnisse. Das kulturelle Leben war in Italien nie so fruchtlos wie in den letzten Jahrzehnten.
Nach dem Bestseller «Der Name der Rose» von Umberto Eco (1980) ist aus Italien kein Buchtitel zu nennen, der ein vergleichbares internationales Aufsehen erregt hat. Man übersetzt vom Italienischen immer weniger, denn es fehlen Inhalte europäischer und globaler Tragweite. In den Universitäten herrschen seit mindestens zwei Generationen Söhne, Töchter und Favoriten von Fakultätsbaronen, die für den eigenen Nachwuchs nach nepotistischen Kriterien sorgen. Ausnahmen gibt es zwar, aber sie bleiben zahlenmässig irrelevant. Die besten Talente der wissenschaftlichen Forschung finden seit langem ihr Glück im Ausland. Die Filmproduktion hat in Nanni Moretti und Paolo Sorrentino ihre zeitgenössischen Vaterfiguren. Die Werke dieser Regisseure kann man aber nur dann wirklich verstehen, wenn man in die Engen der italienischen Gesellschaftskritik eingeweiht ist. Ihrer Kreativität bleibt der Weg zu einer breiteren Anerkennung somit oft versperrt.
Schriftsteller – immerhin ein enger Kreis – treten meistens als stark politisierte Fernsehstars auf. Das kann, selbst den besten, zum Verhängnis werden. Der auch im Ausland nicht unbeachtete Autor Erri de Luca musste sich in den letzten Wochen vor dem Turiner Strafgericht wegen Gewaltanstiftung verantworten. Unabhängig von Ursachen und Ausgang des Prozesses, treibt dieses Ereignis das ganze kulturelle Geschehen nur weiter ins Groteske, denn De Luca ist zwar ein hervorragender Schriftsteller, aber er ist der Rolle des politisch verfolgten Intellektuellen bei weitem nicht gewachsen. Journalisten und Kulturveranstalter ohne politisches Credo, egal in welcher Richtung, werden von Medien und finanzierenden Kulturämtern kaum wahrgenommen. Eine Ausnahme stellen die Katholiken dar, die mit der eigenen Medien- und Veranstaltungsmaschinerie rechnen können. Der Sprachgebrauch des kulturellen Diskurses hat sich seit den siebziger Jahren fast kaum verändert. In anderen Ländern kommen ähnliche Kategorien mittlerweile nur noch bei winzigen Extremflügeln zur Anwendung.
Unter diesen Umständen kann eine lebendige Kulturszene, wie man sie in Frankreich, Deutschland und sogar hier in der kleinen Schweiz kennt, unmöglich entstehen. Organisatoren müssen sich mit Parteikadern auseinandersetzten – von welchen Partei spielt mittlerweile keine Rolle –, die Kulturveranstaltungen nach den Kriterien der Einschaltquoten finanzieren und dabei Bekannte und Parteifreunde beschäftigen. Dieser Sachverhalt wurde mir mit erstaunlicher Einstimmigkeit von mehreren unabhängigen Kulturveranstaltern beschrieben, die in den letzten Jahren auf die Fortsetzung von traditionsreichen Initiativen in zwei unterschiedlichen Regionen Oberitaliens verzichten mussten. Dass die Leitung der wichtigsten Buchmesse des Landes sich gefallen lässt, Saudi Arabien als Ehrengast einzuladen, soll in einer solchen Trümmerlandschaft nicht wundern.
Nun zu den internationalen Hintergründen. Die Lehre der internationalen Beziehungen kennt hauptsächlich zwei Formen der Macht: Die harte (hard) und die weiche (soft) Power. Hard Power drückt sich mit militärischen und wirtschaftlichen Mitteln aus. Wenn sie eingesetzt wird, tut sie meistens weh. Die soft Power drückt sich hingegen in Form von Sprachen, Religionen, Technologie, attraktiven Lebensweisen aus. Sie wirkt des Öfteren verführerisch lockend. Wer soft Power geschickt einsetzt, der braucht nicht mehr, die übrige Welt aufwändig zu überreden. Seine Kultur und Lebensweise werden ohne nennenswerte Kritik bewundert und imitiert. Die englische Sprache, die Bluejeans und die TV-Serien sind zum Beispiel Elemente der soft Power der USA. Sie tragen in entscheidendem Masse dazu bei, dass die USA auch ihre hard Power erfolgreich einsetzen.
Denn die höchste Wirkung erreicht nicht die eine oder die andere Macht, sondern eine ausgeklügelte Kombination beider Formen. Dies wissen einige Länder, die eine im Verhältnis zu ihrem innerstaatlichen Transparenzniveau bereits viel zu starke hard Power ausüben: Die ressourcenreichen Golfmonarchien und neuerdings die früher sowjetischen, heute schon wieder zu Diktaturen degenerierten Staaten Zentralasiens. Ihre hard Power stellen die Erdöl- und Gasreserven dar, von denen wir weitgehend abhängig sind. Bisher fehlte Ihnen allerdings jede Form der soft Power.
Eben um ihre eigene soft Power zu entwickeln, bewerben sich Länder wie Aserbaidschan, Kasachstan, Katar, Russland und die Vereinigten Emiraten immer häufiger als Gastgeber von internationalen sportlichen Veranstaltungen und jugendlichen Songfestivals. Sie schreiben grossangelegte Bauprojekte aus, die weltberühmte Architekten anlocken, sie finanzieren populäre europäische Fussballmannschaften. Ihre modernen Fluggesellschaften laden uns zum Luxusfliegen ein. Die Liste wird immer länger: 2016 ist Saudi Arabien Ehrengast der Turiner Buchmesse. Länder, in denen keine freien Wahlen stattfinden, keine Gewaltenteilung im Sinne des modernen Rechtsstaates herrscht; Gesellschaften, in denen Frauen nicht dafür bestraft werden, weil sie ihr Auto widerrechtlich parken, sondern weil sie überhaupt eines fahren, finden in kulturellen und sportlichen Ereignissen, die sie aus eigener Tasche grosszügig subventionieren, die ideale Arena, in der sie uns ihre verkehrte Welt zeigen. Kommt, ihr Völker der Welt, und schaut auf unser Wunder! Soft Power ist kulturelle Definitionsmacht. Der Widerstand gegen soft Power setzt eine kulturell selbstbewusste Gesellschaft voraus, die ihre Grundwerte nicht verkaufen will. In unseren desillusionierten Gesellschaften findet heute die soft Power von autoritären, diktatorischen und sogar totalitären Systemen die ideale Empfangsantenne. Manche Länder, darunter Italien, sind in dieser Hinsicht schwächer denn je.
Man kann hier nur die Aufforderung zitieren, mit der der russische Oppositionsführer Boris Nemcov kurz vor seiner Tötung in Moskau die Frage der französischen Journalistin Christine Ockrent, wie sei der wachsenden Macht von Gazprom und anderen Schaltstellen des russischen Apparates in Westeuropa entgegenzuwirken, beantwortete: «Verteidigt eure Werte».
Soft Power kann langfristig noch schlimmere Folgen als hard Power haben, denn sie zielt auf Gehirne. Den Preis unserer Leichtsinnigkeit werden die Kinder unserer Kinder zahlen.
Entwicklung: einige Monate nach dem Erscheinen dieses Beitrags wurde die Einladung an Saudi Arabien, an der Turiner Buchmesse als Ehrengast teilzunehmen, zurückgezogen. Entscheidend dafür war die Welle der Empörung, die solche Entscheidung ausgelöst hatte.