Wie kam es zu den Terroranschlägen vom 13. November in Paris? Wie sollten wir uns mit den diktatorischen Regimen im Nahen Osten verhalten? Was können wir als einzelne Menschen tun? Diese Fragen wurden in den letzten Tagen mehrmals gestellt. Direkte Kausalzusammenhänge und logisch nachvollziehbare Erklärungen sind häufig nicht gegeben.
Der internationale Terror entsteht aus einem globalen Netz von miteinander verbundenen Elementen. Bei den internationalen Beziehungen kann man die Ursache eines Ereignisses meistens nicht nennen. Direkte Kausalzusammenhänge und logisch nachvollziehbare Erklärungen sind häufig nicht gegeben. Man sagt und hört, die internationalen Beziehungen seien eine Frage von politischen Entscheidungen. Die Definition ist unvollständig: Die Politik spielt bei den internationalen Beziehungen zwar eine Rolle, aber sie ist nur einer von unzählig vielen Akteuren auf der Weltbühne. Die Sprachen und Kulturen, die Religionen und Ethnien, die Wirtschaft und der Kapitalverkehr, der einfache Bürger, die NRO und die Unternehmen, die Weltorganisationen und -Institutionen, die grenzübergreifende Zusammenarbeit von Polizei und Verwaltungsapparaten, die sozialen, geschichtlichen und geografischen Gegebenheiten und sogar das international organisierte Verbrechen sind einige der interagierenden Subjekte, die das Netzwerk der Weltbeziehungen ausmachen. Der heutige Terror ist der perfekte Sturm der internationalen Beziehungen: Er verbindet im Schrecken kulturelle mit politischen Motiven, das Verhalten von Individuen mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und objektiven Sachlagen – Geographie, Geschichte, Religion. Eine Ursache wird man daher nicht entdecken können. Wir stehen vor einem Gefüge von Interaktionen und Interdependenzen. Wenn in Shanghai ein Schmetterling mit seinen Flügeln schlägt, könnte damit in New York ein gewaltiger Wirbelsturm die Stadt verwüsten. Dieser berühmte Satz wird oft als Motto der internationalen Beziehungen zitiert. Er bezeichnet so knapp wie wenige andere auch die Sachlage beim internationalen Terror. Wir müssen uns auf komplexe, teilweise nicht lineare Kettenreaktionen einstellen.
Ich stehe nun vor diesem rätselhaften Netz und versuche, einige Elemente davon herauszunehmen, die in Verbindung mit vielen anderen eine Rolle dabei spielen.
Der politische Hintergrund. Nach den Terroranschlägen vom 13. November fielen mir die Reden Barack Obamas und Wladimir W. Putins vor der UN-Generalversammlung vom 28. September wieder ein. Ich konnte die Reden in voller Länge und Originalsprache hören. Beide Auftritte hinterliessen einen Eindruck von Heuchelei und Schwäche. Obama und Putin führen die einzigen Länder, die in diesem Zusammenhang etwas Entscheidendes bewegen könnten. Beide Präsidenten sprachen von «Werten,» aber sie schienen keine miteinander übereinstimmende Vorstellung davon zu haben. Der US-Präsident will mit seinem schwankenden, durch Rational-Choice-Logik geprägten Idealismus den sogenannten «Islamischen Staat» besiegen und dabei das syrische diktatorische Regime stürzen. In diesem Zusammenhang arbeiten die USA mit anderen, nicht milderen Diktaturen der Region anscheinend ohne Bedenken zusammen. Putin will das gleiche Ziel erreichen: In diesem Rahmen sei aber der Sieg gegen den «Islamischen Staats», so Putin, nur unter Mitwirkung der amtierenden syrischen Regierung möglich. Gegen den selbstproklamierten «IS» sei die Bildung einer Weltkoalition notwendig. Putin beruft sich dabei ausdrücklich auf das Bündnis zwischen den USA und der UdSSR gegen die europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts, am Ende des 2. Weltkriegs. Der russische Präsident redet als Idealist aber handelt schon lange auf der Weltbühne als aggressiver Realist, ein ähnliches Bild wie beim jüngeren Busch gleich nach dem 11. September 2001. Die Präsidenten Russlands und der USA denken offensichtlich nicht in erster Linie an die Zerstörung der Terrorherde im Nahen Osten. Sie haben eher die Aufrechterhaltung von relativen Vorteilen bei der Vorherrschaft in der Region in Aussicht. Die Beziehung zwischen der Terrorgruppe «Islamischer Staat» und den Terrorzellen, die Anschläge in Europa umsetzen, beruht übrigens auf einer von den oben genannten nichtlinearen Gleichungen der globalen Verhältnisse: Eine Beziehung gibt es zwar. Wie sie genau funktioniert, scheint noch niemand im Detail zu wissen.
Nun zum Kriegsschauplatz. Putin bietet heute dem Westen eine Zusammenarbeit mit Russland bei der Bekämpfung des «IS» in Syrien an. Das klingt zunächst gut: Putin sei der einzige, der «endlich mal etwas gegen den Terror unternimmt,» warum macht man nicht mit? Welche Stellung hat Russland zum Westen genommen? Seit 2007 baut Putin seine Strategie immer deutlicher auf einer Abwertung des Westens als untergehende Zivilisation auf. Bei der Ukraine-Krise hat diese verachtende Einstellung den Höhepunkt erreicht. Der Diskurs hat sich in den letzten Wochen und Monaten zwar etwas verdünnt, aber die grundsätzliche Ausrichtung bleibt unverändert. Der Westen sei eine schwache, korrupte, in die «faschistische» Unkultur zurückgefalle Gesellschaft. Die russischen offiziellen Medien vermitteln seit Jahren diese Botschaft, mit dem Ziel, die Stellung Russlands in Abgrenzung zum Westen zu charakterisieren. Die westliche Öffentlichkeit nimmt diese Darstellung kaum wahr, die westlichen Länder unternehmen wenig oder gar nichts dagegen.
Manche europäische Medien und politische Kreise der unterschiedlichsten Richtungen unterstützen die Thesen Putins. Unterdessen hat Moskau die ukrainische Krim de facto annektiert, in Georgien, Moldawien und der Westukraine hat Russland wichtige Grundsätze des Völkerrechtes verletzt. Dort unterhält es Puppenstaaten, die ausserhalb jeder international anerkannten Regelung, mit tausenden Opfern und erheblichen Sachschäden eingerichtet wurden. >Nun wünscht sich Putin ein Bündnis mit dem Westen gegen den internationalen Terror, auf gemeinsamen Zivilisationswerten gegründet. Nochmals: Welche Werte und welche Zivilisation sollten wir dabei als gemeinsame Grundlage nennen? Die (N)Ostalgie der UdSSR und der zaristischen Grandeur, die das heutige Russland prägen? Eine Neuauflage der Doktrin der Einflusszonen Monroes? Die Koalition mit der UdSSR Stalins gegen Faschismus und Nationalsozialismus kostete fast 50 Jahre Diktatur in Osteuropa. Wie teuer wird nun die «Kooperation» mit Russland in Sachen Terrorbekämpfung? Sind wir im Westen, die in der Moskauer Vorstellung nur noch von Neofaschisten an der Leine geführt werden, plötzlich schon wieder brave Freunde geworden? Auf welchem völkerrechtlichen Sofa soll das neue Ost-West-Idyll sitzen? Was wird nach einer eventuellen, gemeinsamen Militärintervention in Syrien geschehen? Wer stellt die notwendigen Bodentruppen? Antwort: Fehlanzeige.
Spielt die Religion bei den Terroranschlägen in Paris eine Rolle? Dass es einen islamistischen Terror gibt, macht nicht aus jedem Moslem einen Terroristen; dass es pädophile Priester gibt, macht nicht aus jedem Christen einen Sexualverbrecher. Diese selbsterklärenden Feststellungen gehen am Problem vorbei und bringen heuristisch keinen Schritt weiter. Es werden Terroranschläge im Namen einer Religion verübt. Es gibt also Menschen, die eine Verbindung zwischen Religion und politisch motivierter Tötung herstellen. In Europa gibt es nicht vernachlässigbare Mengen von katholischen und orthodoxen Christen, die nationalistische und fremdenfeindliche Thesen vertreten. Katholisch-konservative Medien, die bei zahlenmässig nicht unbedeutenden Bevölkerungsschichten grosses und akritisches Gefolge haben, erheben ihre Stimme gegen die Grundsätze des Rechtsstaats, verachten als antichristliche Täuschung die europäische kulturelle Entwicklung, aus der unsere Grundfreiheiten entstanden. Sie greifen teilweise auf antisemitische Argumente zu. Es gibt Regionen Europas, ich denke zum Beispiel an Süditalien, in denen die Kirche eher die Nähe des organisierten Verbrechens vorzuziehen scheint, als ein transparentes Verhältnis zum Rechtsstaat zu pflegen. Vom Anfang der siebziger Jahre an haben wir die Religionen als Sache von schwachen und leichtgläubigen Menschen wegrationalisiert.
Wir haben jahrzehntelang die radikalisierten Prediger in den europäischen Vorstädten als Randerscheinungen toleriert. Heute sind jene Stadtviertel von Paris oder Brüssels quasi zu extraterritorialen Gebieten geworden, in denen Parallelgesellschaften wuchern, ungestört Waffen gehandelt und Terroranschläge organisiert werden. Das alte Argument, dass Menschen dort wegen Armut und sozialer Ausgrenzung zu Terroristen werden, genügt nicht mehr. Dass nicht jeder Christ ein Antisemit, nicht jeder Moslem ein Terrorist ist, versteht jedes Kind. Anstatt mit kindlicher Logik zu spielen, sollten wir eher erkennen, dass wir mit bestimmten religiösen Kreisen unterschiedlicher Konfessionen ein Problem haben, und zwar nicht nur subjektiv mit einigen Gläubigen, sondern objektiv im Verhältnis zwischen Religion und Rechtsstaat. Die Trennung zwischen Staat und Kirche war eine fundamentale Errungenschaft der europäischen Geschichte. Bei einigen Gläubigen scheint die Loyalität gegenüber der Religion immer noch wichtiger als die Beachtung der Grundsätze des Sozialvertrags als Grundlage einer offenen Gesellschaft zu sein. Autokratische Mikrogesellschaften, die heute in den europäischen Vorstädten als komfortable Herde des Terrors wirken, können sich in vierzig, fünfzig Jahren in anderen Gebieten, mit anderen Zwecken und Konfessionen entwickeln, wenn man die Anzeichen ihrer Entstehung nicht zeitnah erkennt und abschaltet.
Wie sollten wir uns als westliche Gesellschaften mit den diktatorischen Regimen im Nahen Osten verhalten? Wir können das Fortbestehen jener Regierungen im Sinne der Realpolitik dulden. Wir können die Diktatoren stürzen und einen idealistischen Nation-Building-Prozess einleiten, aus dem eine freie Gesellschaft entsteht. Die erste Alternative klingt schlecht aber garantiert Stabilität, die zweite klingt gut aber funktioniert oft nicht, denn sie dient meistens nur als idealistischer Vorwand für den Aufbau von Einflussgebieten. Ein Muster, nach dem wir in einer globalisierten Welt erfolgreich dieses Verhältnis organisieren können, haben wir noch nicht entwickelt.
Was können wir als einzelne Menschen tun? Da fällt die Antwort wesentlich knapper aus: Von den einfachen Lösungen misstrauen.